Künzler
Anerkennung vor Umverteilung
ISBN 978-3-487-15935-5
Die soziale Frage war für den Berner Pfarrer Albert Bitzius, besser bekannt als der Schriftsteller Jeremias Gotthelf (1797–1854), Teil eines tiefgreifenden religiösen Problems. Er war überzeugt, dass die Not von einer Gesellschaft erzeugt wurde, die sich nicht mehr auf christliche Grundsätze berief.
Im Unterschied zu anderen kirchlichen Bestrebungen ging es ihm aber nicht um die „Rechristianisierung“ der vermeintlich moralisch und sittlich verkommenen Armen und die Restauration der Sozialordnung. Vielmehr stand er in engem Kontakt mit der neuen Reformpädagogik und beeinflusste mit seinem Heim für Verdingkinder auch Friedrich Fröbel, den Begründer des Kindergartens. Die fortschrittsgläubigen Radikalliberalen, welche die Lösung der sozialen Probleme in einem zentralisierten, wertneutralen und religiös indifferenten Staat sahen, erkannten dies nicht und sahen in ihm nur den konservativen Reaktionär und Heimatdichter.
Lukas Künzler schlägt in seiner Analyse von "Die Armennoth" und "Käthi, die Großmutter" eine andere Lesart der sozialethischen Schriften Gotthelfs vor und zeigt, dass dieser in seinem Werk unmittelbarer auf die epochalen Herausforderungen seiner Zeit reagierte als bislang angenommen. Die durch Armut und Hunger bewirkte Gärung in den Unterschichten reflektierte er ebenso deutlich wie die frühsozialistischen Theoretiker, die in der revolutionären Umwälzung aller politisch-ökonomischen Verhältnisse den Weg zu gerechten sozialen Zuständen sahen.
Gerade in unserer Zeit, die mit der Migration und dem Klimawandel wieder vor der Wertefrage steht, gewinnt Gotthelfs Werk neue Bedeutung und Aktualität.
englischFor the Bernese pastor Albert Bitzius, better known as the writer Jeremias Gotthelf (1797-1854), the social question was part of a profound religious problem. He was convinced that the hardship was generated by a society that no longer relied on Christian principles.
Unlike other ecclesiastical efforts, however, he was not concerned with "rechristianizing" the supposedly morally and ethically depraved poor and restoring the social order. Rather, he was in close contact with the new reform pedagogy and, with his home for Verding children, also influenced Friedrich Froebel, the founder of the kindergarten. The progressive radical liberals, who saw the solution to social problems in a centralized, value-neutral and religiously indifferent state, did not recognize this and saw in him only the conservative reactionary and homeland poet.
In his analysis of "Die Armennoth" and "Käthi, die Großmutter", Lukas Künzler proposes a different reading of Gotthelf's social-ethical writings and shows that in his work he reacted more directly to the epochal challenges of his time than previously assumed. He reflected the fermentation in the lower classes caused by poverty and hunger just as clearly as the early socialist theorists, who saw the way to just social conditions in the revolutionary upheaval of all political-economic conditions.
Especially in our time, which again faces the question of values with migration and climate change, Gotthelf's work gains new importance and topicality.